Lügt Rotkäppchen?

1. Juni 2022

Wenn man sich in Deutschland mit Wölfen beschäftigt, kommt man an einer Erzählung ganz sicher nicht vorbei. Das Märchen von „Rotkäppchen und dem bösen Wolf“.

Aber kennen wir die Geschichte wirklich so gut, wie wir meinen? Wie war das noch gleich?
Ein kleines Mädchen, Rotkäppchen, dem seine Großmutter einst eine rote Kappe geschenkt hat, wird von der Mutter geschickt, der in einem Haus im Wald wohnenden, bettlägerig kranken Großmutter einen Korb mit Leckereien (Kuchen und Wein) zu bringen. Die Mutter warnt Rotkäppchen eindringlich, es solle nicht vom Weg abgehen. Im Wald lässt es sich auf ein Gespräch mit einem Wolf ein. Dieser horcht Rotkäppchen aus und macht es auf die schönen Blumen auf einer nahen Wiese aufmerksam, worauf Rotkäppchen beschließt, noch einen Blumenstrauß zu pflücken, der Warnung der Mutter zum Trotz. Der Wolf eilt geradewegs zur Großmutter und frisst sie. Er legt sich in deren Nachthemd in ihr Bett und wartet auf Rotkäppchen. Bald darauf erreicht Rotkäppchen das Haus, tritt ein, und begibt sich an Großmutters Bett. Dort wundert sich Rotkäppchen über die Gestalt ihrer Großmutter, erkennt aber nicht den Wolf, bevor es ebenfalls gefressen wird. Großmutter und Rotkäppchen werden aber von einem Jäger aus dem Bauch des Wolfes befreit. Der Jäger füllt dem Wolf Steine in den Bauch. Wegen des Gewichts der Steine kann der Wolf nicht fliehen und stirbt.

Was ist das für eine Erzählung? Woher stammt sie? Was will sie uns sagen?
Die Geschichte von dem kleinen naiven Mädchen, das vom Wolf hinters Licht geführt und wie seine Großmutter schließlich gefressen wird, war ursprünglich eine Volksüberlieferung, die von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurde. Es ist daher unmöglich, einen genauen Entstehungszeitpunkt zu bestimmen.

Einer Theorie zufolge, die der Italiener Anselmo Calvetti entwickelte, könnte die Geschichte schon in der Frühgeschichte der Menschheit erstmals erzählt worden sein. Sie könnte Erfahrungen verarbeiten, die die Menschen bei einem Initiationsritus zur Aufnahme in den Stammesclan machten. Hierbei wurden sie symbolisch von einem Ungeheuer (dem Totemtier des Clans) verschlungen, mussten körperliche Schmerzen und kannibalische Handlungen ertragen, um schließlich „wiedergeboren“ zu werden und damit als erwachsene Mitglieder des Stammes zu gelten. In der Spruch- und Erzählsammlung „Fecunda ratis“, die Egbert von Lüttich um 1023 verfasste, findet sich die Geschichte eines kleinen Mädchens, das in Gesellschaft von Wölfen aufgefunden wird und ein rotes Kleidungsstück besitzt. Eine der ältesten bekannten schriftlichen Fassungen stammt von dem Franzosen Charles Perrault und wurde 1697 unter dem Titel „Le petit Chaperon rouge“ veröffentlicht. Die Geschichte nimmt bei ihm kein gutes Ende, die Großmutter und das Rotkäppchen werden vom Wolf gefressen, ohne danach wieder gerettet zu werden.
Die erste deutsche Übersetzung des französischen „Le petit Chaperon rouge“ erschien 1760/61. Da die gehobenen Gesellschaftsschichten jedoch größtenteils der französischen Sprache mächtig waren, fand die Geschichte vermutlich schon vorher auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung. Die Fassung, die 1812 im ersten Band der „Kinder und Hausmärchen“ von Jacob und Wilhelm Grimm erschien, hat ein gutes Ende, ein Märchenende. Ein Jäger rettet das Rotkäppchen und seine Großmutter aus dem Bauch des Wolfes und füllt diesen stattdessen mit Steinen, was zum Tod des Tieres führt.

Soweit die erzählte Geschichte und ihr historischer Hintergrund. Was aber will uns diese Geschichte eigentlich sagen?
Wenn wir auf die vermutlich zu Grunde liegenden mündlichen Überlieferungen und ihre Wurzeln schauen, stellen wir fest, dass sich die Erzählung offensichtlich mit dem Erwachen der Sexualität in der Jugend beschäftigt. Bei dieser Betrachtungsweise kommen wir schnell in den Bereich von Symbolik, die einer Interpretation bedarf. In dem Buch „Die gemeinsame Geschichte von Wolf und Mensch“ von Dr. Utz Anhalt wird dieser Interpretationsansatz näher beleuchtet: „…der Wolf im Rotkäppchen ist keine Tier, sondern eine Allegorie … ein menschlicher Wolf. Das Märchen handelt von einem zur Frau heranwachsenden Mädchen, das auf dem Weg von Mutter zu Großmutter einem männlichen Ungeheuer begegnet.“ In dem Buch kommt auch Erik Zimen zu Wort, der sagt, dass „nämlich der Wald und die wilden Tiere gefährlich sind, desgleichen die Verlockungen des Unbekannten für Mädchen allen Alters, wenn sie die Ermahnungen ihrer Mütter nicht befolgen.“ Die Gefahr, vor der das Märchen warnt, ist nicht ein wilder Wolf im Wald. Der Wolf (der Mann) tötet nicht das Rotkäppchen, sondern die Jungfrau, indem er der jungen Frau die Unschuld (nicht das Leben) nimmt.

Wie aber ist es dazu gekommen, dass der ursprüngliche Hintergrund in dem deutschen Märchen ein Stück weit verloren ging?
Bereits bei der ersten schriftlichen Fassung von Perrault wurde das Märchen verändert. Da die Erzählung für die Lektüre am französischen Hof von Versailles bestimmt war, verzichtete Perrault weitgehend auf Elemente, die als vulgär gelten könnten. Trotzdem schreibt Perrault weniger ein Märchen, als eine moralische Abschreckungsparabel. In seiner Version sind zahlreiche Anspielungen auf Sexualität zu finden (so legt sich Rotkäppchen auf dessen Aufforderung hin nackt zum Wolf ins Bett). Ans Ende ist zudem ein kleines Gedicht gestellt, das kleine Mädchen vor Sittenstrolchen warnt. Perrault hatte die Absicht, mit der Erzählung explizit Verhaltensmaßregeln festzulegen, und griff dabei zum Mittel der Abschreckung: „Kinder, insbesondere attraktive, wohlerzogene junge Damen, sollten niemals mit Fremden reden, da sie in diesem Fall sehr wohl die Mahlzeit für einen Wolf abgeben könnten. Ich sage „Wolf“, aber es gibt da verschiedene Arten von Wölfen. Da gibt es solche, die auf charmante, ruhige, höfliche, bescheidene, gefällige und herzliche Art jungen Frauen zu Hause und auf der Straße hinterherlaufen. Und unglückseligerweise sind es gerade diese Wölfe, welche die gefährlichsten von allen sind.“

Vornehme Herrn
Amüsieren sich gern,
Doch wollen sie nicht,
Dass die Leute davon sprechen,
Sie ziehen nicht ans Licht,
Ihre kleinen Schwächen.
Als bestes Mittel,
Das Geheimnis zu wahren,
Auf mein Wort,
Tut sich erweisen,
Die Geliebte sofort
Aufzuspeisen.

Bei der schriftlichen Niederlegung der Brüder Grimm fand eine erneute Anpassung statt. Die Brüder „reinigten“ die ursprüngliche Fassung von ihrer Meinung nach zu grausamen, zu sexuellen und zu tragischen Komponenten und passten es so den Ansprüchen des im 19. Jahrhundert aufsteigenden Bürgertums an. Im weiteren Verlauf des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts blieb das Märchen in seiner Struktur weitgehend unverändert, einige Autoren entfernten jedoch auch noch die wenigen übriggebliebenen Gewaltszenen (z. B. das Verschlingen des Rotkäppchens) und Stellen mit sexuellem Unterton, die sie als zu roh empfanden. Meist blieb Rotkäppchen in ihrer naiven und hilflosen Position und wurde vom männlichen Jäger gerettet, was das Frauenbild der Zeit widerspiegelt. In Deutschland wurde das Märchen im 19. Jahrhundert zunehmend niedlicher und christlicher, um es den Kindern zugänglicher zu machen.

So wurde im Laufe der Jahrhunderte aus einer Warnung vor dem (unbekannten) Mann eine Mär über Wölfe, die in deutschen Wäldern Kinder fressen. Seiner Symbolik beraubt, wird das Märchen in unserer Zeit als Beleg dafür missbraucht, dass der Wolf (Canis Lupus) eine menschenfressende Bestie ist und das ist die eigentliche Lüge in der ganzen Geschichte!

Geschrieben von Nicole Kronauer

Rudelnachrichten der Gesellschaft zum Schutz der Wölfe e.V. (Sommer 2016)

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